Luppenau

         Gipfelkreuz - Ilja Bakkal

SAALE-ELSTER-AUEN-KURIER - Juni 2015

Am nördlichen Ufer des Wallendorfer Sees hat sich seit Pfingsten die Skyline verändert. Der Kurier berichtete darüber im Juli (Wallendorf). Auf dem Hirschhügel, der höchsten Erhebung Luppenaus (!), erkennt man vom gegenüberliegenden Ufer ein Gipfelkreuz, weithin sichtbar, solide gearbeitet und für die Ewigkeit im Fundament verankert. Beherzt hat Ha.-Jo. Pomian es mit regionalen Handwerkern angefertigt und im Handstreich aufgestellt. Beherzt heißt im Sprachgebrauch des umtriebigen Wallendorfer Ortsbürgermeisters unbürokratisch. Dieser an sich positiv belegte Begriff sorgt für einschlägigen  (amtlichen) Ärger. Diesbezüglich ist rückwirkend u.a. die Frage zu beantworten, ob es einen öffentlichen Bedarf an diesem monumentalen Symbol gibt. Ich denke schon, und er geht über die eigentlich zugedachte Bestimmung hinaus:


Urlaubsgrüße aus Tirol

Das rettende Stahlseil scheint greifbar nahe. Ich kann es aber nicht erreichen. Meine linke Hand krallt sich in ein Grasbüschel mit Enzian, die andere an einen faustgroßen Vorsprung. Der rechte Fuß klemmt in einer senkrechten Spalte, der linke rudert durch die Luft. Der Rest des Körpers hält sich in einem fragilen Gleichgewicht aus Erdanziehung und Adhäsion. Gleichgewicht ist irreführend. Ließe ich los, gewänne die Schwerkraft. So glatt ist der Fels nun auch wieder nicht, dass man auf dem Bauch hinab rutschen möchte. Das Drama spielt sich in gut 2000 m Höhe ab. Der schwarze (Erfahrung, Ausrüstung, Kondition, Schwindelfreiheit – hier kommen keine Almkühe mehr rauf) Wanderweg ist von mehreren Gedenktafeln für verunglückte Bergsteiger flankiert. Eine Manneslänge neben mir geht es hunderte Meter senkrecht in die Tiefe. Ist mir egal. Ich will zum Stahlseil!  Der Weg nach oben hat die Kräfte aufgezehrt. Ein phänomenaler Ausblick lässt die Seele schweben, allein der Körper schindet sich, schwitzt, zittert, schmerzt. Etwas verschnaufen. „Nach rechts“, tönt es von unten. Das ist mir auch klar. Nur dazu muss der einzig sichere Fuß für einen Moment aus seiner Spalte. Der Enzian neigt sich. ANGST. Ich habe keine Wahl. Kosten für eine Rettung 50 €, stand an der Bergstation der Seilbahn. Die hätte ich ja, komme aber nicht ran. Kosten für einen Haufen Hundedreck 1820 €. Wer wird sich da meinetwegen hochbemühen? Ich muss es allein schaffen. Der Enzian wackelt bedrohlich. Fallraum freihalten – lasen wir in der Kletteranweisung. Das betrifft den Nachfolgenden, es reicht wohl wenn einer… „Geh mal ein Stück zur Seite“, rufe ich nach unten und schmiege mich an den Berg. Kontrollblick zum Enzian – höchste Zeit – ziehe  den Fuß aus der Spalte und – rutsche. Gedanken schießen durch den Kopf: Wie wird die Welt ohne mich zurechtkommen? Meine Frau (hat mir das eingebrockt), die Kinder (genießen gerade, dass ich weg bin), meine Freunde (habe ich noch welche?), meine Patienten (endlich leidet der auch einmal), die Leser des Kuriers (wer liest das schon?)… Warum, eigentlich, muss ein Mensch, der physisch und psychisch am Ende und ohnehin schon halb im Himmel ist, erst noch umständlich am Boden zerschmettert werden?
„Wenn du dich nicht auskekst, kannst du dir den Gamsbraten abschminken!“ GAMSBRATEN. Der linke Fuß findet Halt. Geht doch. Die Kraft des positiven Gedankens zur rechten Zeit. Heute Gamsbraten mit Rotkraut, Knödel, Sahne und Preiselbeeren. Den Jäger trafen wir vorgestern. Das Grasbüschel mit dem Enzian klatscht unten auf. Was kostet das Ausreißen von Enzian?  Noch ein  Schritt bis zum Seil, darüber einbetonierte Stahlbügel. Rechts der Abgrund, nackter Fels, nicht runter schauen, das letzte Stück auf allen Vieren. Vorsichtiges Aufrichten am Gipfelkreuz: Zum Gedenken an die verunglückten Kameraden aus… Es er schaudert mich ein letztes Mal.
Das Herz schlägt in den Ohren, glücklich, erschöpft, stolz und dieses Panorama: Unten der See mit dem Ausflugsdampfer und das, was wie tausend Wildgänse aussieht, sind Segelboote. Überall Gipfel und Gipfelkreuze. Meine Sorgen? Alle noch da, aber klein, irgendwie lösbar, muss mich nur ein wenig anstrengen, wie eben gerade.  
Dabei haben wir zuhause auch ein Gipfelkreuz mit Berg und See und Wildgänsen. Der Dampfer fehlt noch.  Dieses unbeschreibliche Hochgefühl – ich kann alles wenn ich will – hätte ich einfacher haben können. Unser Gipfelkreuz ist auch größer und es steht nicht so etwas Schlimmes dran: Gott schütze unsere Seen, Wald und Flur. (Vielleicht sollte ersteimal das Ordnungsamt… Wie es sich effektiv selbst finanzieren könnte, lasen Sie in diesem Beitrag.) Auch die Kraft des positiven Gedankens ließe sich angesichts der guten Gastronomie in Wallendorf und Löpitz zweifellos erfahren.

Sie meinen es war nicht das Kreuz, sondern die Plage?! Vielleicht eine Kombination aus beidem. Dann stünde unser Kreuz auf dem falschen Hügel. Aber wer sagt denn, dass die Plage nicht auch in der Ebene stattfinden kann? Z.B. einmal um den See joggen und erst dann nach oben? Wenn der Effekt ausbleibt, joggen Sie bitte zweimal. Geht es immer noch nicht, könnte es am Kreuz liegen, weil vor seiner Errichtung die Genehmigungsbürokratie nicht präzise befolgt wurde. In diesem Fall wenden Sie sich bitte an den Vorsitzenden des Ausschusses für Seen und Tourismus. Ha.-Jo. Pomian hätte nicht zum ersten Mal den Wallendorfer See mit erhöhter Bugwelle durchfahren und anschließend mit Hilfe die Wogen zu glätten gehabt. Sicherlich gelingt es auch diesmal. Oder sollte er das Kreuz wieder heruntertragen, im Winter alle erforderlichen Anträge schreiben und Pfingsten nächsten Jahres wieder aufstellen?

Nicht wirklich,
Ilja Bakkal